Das Ende der Kindheit

Marion Pelny

Aleppo 2011
Es war kurz nach seinem achten Geburtstag. Abdul* freute sich auf zu Hause, wo ihn seine Mutter mit dem Mittagessen erwartete. Er winkte Karim zu, der mit Freunden auf dem Sportplatz noch Fußball spielte, und lief die Straße hinunter. Plötzlich hörte er ein Pfeifen, dann ein Krachen. Wie von unsichtbarer Hand gestoßen fiel er auf die Straße und hielt instinktiv die Hände schützend über den Kopf. Er wußte nicht, wie lange er so gelegen hatte. Als er sich endlich umdrehte, sah er dort, wo die Schule war, eine riesige Staubwolke. Auch auf seine Kleidung hatte sich eine dicke Staubschicht gelegt. Er stand auf und lief zurück, immer schneller lief er und rief immer wieder: „Karim!… Karim!…“ den Namen seines besten Freundes.
Die Schule gab es nicht mehr, sie war nur noch ein Berg zerborstener Mauern.
Fenster hingen im Nichts. Weit verstreut lagen Trümmer.
Und tote Kinder.
Er rannte über den Platz, fand den Fußball.
Der Fußball lag still.
Daneben Karim.
Abdul drehte sich um, lief nach Hause, zur Tür der Nachbarin, Karims Mutter.
E i n t a u s e n d a c h t h u n d e r t d r e i u n d s e c h z i g Schritte.
Die Nachbarin öffnete ihm.
Er hörte sich Worte sagen, als spräche sie jemand anders.
Er sah sie zusammensinken wie einen Holzscheit, der zu Asche zerfällt.
Er hörte ihr Weinen und Klagen nicht mehr.
Die Nachbarn liefen zusammen.
Er stand mit dem Rücken an der Wand.
Niemand beachtete ihn.

Leipzig 2015/16
Abdul sitzt vor mir. Ich bin als sein Vormund eingesetzt worden. Abdul ist jetzt 12 Jahre alt. Er lebt in der Erstunterkunft für unbegleitete Minderjährige. Es ist unser erstes Gespräch. Abdul sagt beeindruckende Sätze, wie „Meine Familie ist gegen jede Art von Gewalt“. Aber bei den anderen Jungs ist er nicht beliebt. Später erzählt mir die Betreuuerin, dass Abdul oft in Rangeleien verwickelt ist und die zum großen Teil älteren Jungs nichts mit ihm zu tun haben wollen. Abdul ist einsam und inzwischen Bettnässer…
Es gelingt mir, eine Wohngruppe für Abdul zu finden. Obwohl auch dort alle Jungs älter sind als er, will ich ihn dort haben, weil dort schon ein anderer syrischer Junge lebt. Einer, der gut angekommen ist, schon gut deutsch spricht und sich sofort bereit erklärt, Abdul zu helfen. In seinem Zimmer ist ein Bett frei. Das Konzept scheitert. Abdul stößt in der WG alle vor den Kopf, auch Mohamad*, den anderen syrischen Jungen. Sie streiten sich, obwohl Mohamad sich vorher kaum mit jemandem anders gestritten hat. Die MitarbeiterInnen in der WG sind ratlos. Abdul hört auch auf die ErzieherInnen nicht, zumindest nicht auf alle. Einige ignoriert er einfach. Da die Verständigung schwierig ist, vermuten die Erzieherinnen, dass Abdul Frauen nicht respektiert. Ich frage Mohamad. Mohamad sagt, dass er Abdul danach gefragt hat, Abdul hat geantwortet: „Sie sind nicht Gott und nicht mein Vater.“ Außerdem ist Abdul sowohl in seiner Familie als auch in der Schule geschlagen worden. Das ist üblich in Syrien, erzählt mir auch Mohamad. Ich frage Mohamad, warum er sich anders verhält, er ist doch nur wenig älter als Abdul. Mohamad sagt, er will in Deutschland ankommen und weiß, dass er sich anpassen muss. Er will einen guten Schulabschluss und später studieren. Ich verstehe: Da ist Abdul noch lange nicht. Wie aber schafft man es, einen Jungen, der offenbar nur die Sprache der Schläge versteht, mit anderen Mitteln zu erreichen?
Die Hoffnung, dass Abdul durch die Schule Ablenkung findet und besser ankommen kann, zerschlägt sich schnell. Jede Woche Einträge in seinem Hausaufgabenheft, irgendwann kurz vor Weihnachten die Ansage der Lehrerin, wenn sich Abdul weiter so verhält, wird er nach Hause geschickt. Nach Hause. Wo immer das ist…
Inzwischen hat in der WG ein neuer Mitarbeiter angefangen, der Bezugserzieher für Abdul wird. Er hat sich in seiner Ausbildung schon mit dem Thema Traumatisierung beschäftigt. Er versucht, zu Abdul eine Beziehung aufzubauen. Abdul braucht „einen sicheren Ort“ sagt er, das ist der Kern der Arbeit mit traumatisierten Kindern. Im Kopf von Abdul ist immer noch Krieg. Er kämpft jeden Tag und gegen alle. In seinem Kopf ist er noch lange nicht in Sicherheit. Und es wird deutlich: da hat sich ein Zwölfjähriger wie ein Erwachsener auf der Flucht durch Europa durchschlagen müssen – und jetzt wird er plötzlich behandelt wie ein Kind und soll hören, was die Erwachsenen sagen. Das passt nicht zusammen, nicht in seinem Kopf und nicht in seinem Herzen.
Der sichere Ort ist nicht nur der äußere Ort, sondern auch der innere Ort, den Abdul ohne Hilfe nicht finden kann. Eigentlich braucht er dringend therapeutische Hilfe. Arabisch sprechende Traumatherapeuten gibt es nicht. Ich finde eine Traumatherapeutin, die bereit ist, mit ihm und einem Dolmetscher zu arbeiten. Das nächste Problem: welchen Dolmetscher kann ich dafür nehmen? In den letzten Monaten habe ich die Erfahrung gemacht, dass von den syrischen Jugendlichen, aber auch von deren Verwandten, jede Art von therapeutischer Hilfe abgelehnt wird. Auch die arabischen Dolmetscher wiegeln beim Thema Therapie ab. Es erinnert mich an die kriegstraumatisierten Menschen nach dem II. Weltkrieg, die verstummten, weil sie glaubten, darüber zu reden macht alles nur schlimmer. Ich frage eine junge deutsche Frau, die einen syrischen Vater hat und zweisprachig in Deutschland aufgewachsen ist. Sie erkennt die Notwendigkeit der Therapie und wird Abdul unterstützen. Im Februar wird die Therapie beginnen.
Immer noch nässt Abdul jede Nacht ein. Er sagt, er träumt von seiner Mutter, die mit dem Vater und den zwei kleinen Schwestern in der Türkei festsitzt. Er träumt von ihr und dann macht er ins Bett. Von den ErzieherInnen erfahre ich, dass Abdul nach den Telefonaten mit der Mutter selbst sagt, dass er ganz verwirrt im Kopf ist. Die Mutter drängt ihn, sich mehr anzustrengen, damit der Rest der Familie nachkommen kann. Der Asylantrag ist längst gestellt, aber es kommt keine Antwort. Dass Abdul Asyl bekommt, ist aber die Voraussetzung dafür, dass wir seine Familie nach Deutschland nachholen können. Ich frage Abdul, ob es für ihn besser wäre, zurück in die Türkei zu seiner Familie zu gehen. Abdul sagt: „Dann hätte ich als Mann versagt!“

* Namen wurden zum Schutz der Persönlichkeit geändert